Hören mit einem Ohr - Richtungshören und selektives Hören

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ANFux
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Hören mit einem Ohr - Richtungshören und selektives Hören

Beitrag von ANFux » 05.12.2007, 17:47

Hören mit einem Ohr – Richtungshören und selektives Hören

Hören ist eines der wunderbaren Vermögen des menschlichen Körpers. Es kommt durch ein phantastisches Zusammenspiel von Physik und Physiologie zustande. Dabei spielt die Tatsache, dass vieles an und in unserem Körper binär (zweifach) existiert, eine große Rolle. Gerade diese Tatsache aber ist nicht mehr gegeben, wenn z.B. durch eine AN-OP das Gehör auf einer Seite ausgefallen ist.

Der Schall kommt von verschiedenen Schallquellen, aus unterschiedlichen Richtungen, mit unterschiedlicher Frequenz und mit unterschiedlicher Stärke an beiden Ohren an. Alles überlagert sich zu einem Schallgemisch. Aber: Bei binauralem Hören (Hören mit zwei Ohren) sind Ohr und Hirn in der Lage, dieses Gemisch wieder zu entwirren. Voraussetzung dafür ist – neben der Leistung des Gehirns – daß Pegel, Laufzeit und Richtung der an beiden Ohren ankommenden Wellen sich unterscheiden. Der Mensch kann Laufzeitunterschiede zwischen den beiden Ohren von Tausendstel einer Sekunde (30x10 hoch–6) wahrnehmen, das entspricht beim Schall 1 cm bzw. 3 Grad Richtungsänderung!

Der beidseitig Hörende kann „mit den Ohren sehen“, er kann sich willentlich sehr leicht auf eine einzelne Schallquelle konzentrieren, kann sie selektieren (herauslösen, auswählen) und auch orten. Selbst im größten Tumult an einer Straßenkreuzung oder auf einer Party, kann der Nichthörgeschädigte ein bestimmtes Gespräch, Geräusch oder etwas anderes, auf das er sich konzentriert, das er hören will, auch herausfiltern und hören, also inhaltlich verstehen. Und er weiß, aus welcher Richtung das Geräusch kommt. Er muß dazu nicht einmal den Kopf bzw. den Blick in die Richtung wenden. Man spricht deshalb auch sinnigerweise vom Cocktailpartyeffekt. Er weiß auch ziemlich genau, wo der Vogel sitzt, den er singen hört, obwohl der im Laub der Bäume nicht zu sehen ist.

Der einseitig Ertaubte dagegen hört den Vogel immer auf der Seite des intakten Ohres singen. Drehen des Kopfes ändert daran nichts. Das Richtungshören ist nicht mehr möglich. Und mehr noch: Das Schallgemisch, das an sein/ein Ohr trifft, lässt sich nicht entwirren. Er kann nicht mehr selektiv hören. Ursache ist, dass das Gehirn nicht mehr auf die Laufzeit- und Lautstärkedifferenzen zurückgreifen kann, die durch die unterschiedlich Ankunft an zwei Ohren zustande kommen. Und außerdem verwirrt der über den Schädelknochen von der ertaubten zur intakten Seite verlaufende Körperschall das Gehirn. Es kommen weitere Dinge hinzu: Das Gehirn versucht, den Lautstärkeverlust auszugleichen, in dem es die am intakten Ohr ankommenden Schallwellen verstärkt, es dreht quasi den Verstärker auf. Es kann zu übersteigerter Hörempfindlichkeit kommen (Hyperakusis). Und oft ist das intakte Ohr dann für bestimmte Frequenzen überempfindlich, meist für die hohen. Da das Gehör zwischen Ton, Impuls und diffusen Geräuschen unterscheidet, sind für den einseitig Ertaubten besonders die undefinierbaren, diffusen Geräusche lästig bis störend. Dazu zählen z.B. das Gemurmel in gefüllten Gaststätten oder in Konzertpausen und das Zischen des in die Wanne rauschenden Wasserstrahles (allein auftretend weniger als zusammen mit anderen Geräuschen, auf die man sich eigentlich konzentrieren möchte).

Es gibt aber auch Tröstliches für die so „Geplagten“, zu denen ich übrigens seit meiner OP im Jahre 1994 gehöre. Das natürlich gegebene selektive Hörvermögen hat auch eine persönliche Komponente, die durch Lernen und dadurch gesammelte Erfahrungen gespeist wird. Folglich hat auch die „Abwehr“ der störenden diffusen Geräusche eine persönliche Komponente. Das heißt, durch Training und Willen lässt sich der Grad der „Störung“ reduzieren. Das bedeutet, dass man nach einem gewissen zeitlichen Abstand nach der OP zwar nicht unbedingt zu einem Rockkonzert gehen sollte, aber man soll auf keinen Fall alle Örtlichkeiten und Gegebenheiten meiden, an denen es geräuschintensiv (das ist etwas anderes als laut) ist. Nur so kann man den Körper an die neue Situation gewöhnen. Außerdem würde man sich gesellschaftlich isolieren, was auch nicht gewollt sein kann. Und noch etwas ist tröstlich: Lautstärke an sich und allein ist nicht störend. Man kann z.B. im Konzert den Auftakt zu „Zaratustra“ und den Schluß der „Neunten“ mit vollstem Genuß hören, ohne sich schützend das eine Ohr zuhalten zu müssen. Wohl aber stört das Gemurmel auf den Pausengängen!? Der Grund liegt darin, dass die „Musik, ein Schallgemisch“ aus verschieden Schallquellen (Instrumenten) nicht selektiert werden muß. Sie ist in ihrer Gesamtheit ein Klang, sie ist harmonisch, ich will sie so hören. Ich wehre mich nicht gegen ein diffuses Geräusche und Krach. Ist das nicht wunderbar? Die Sache würde anders aussehen, wenn neben der Musik andere, etwa gleich intensive Geräusche im Raum wären und ich die Musik aus dem Gesamtpegel herausfiltern müsste. Das wäre Streß.
Übrigens - wer nur auf einem Ohr hört, ist i.a. ein sehr geeigneter Gesprächsmoderator, denn er wird sehr darauf achten, daß nacheinander gesprochen wird und nicht gleichzeitig, zusammen. Und das finden dann auch die "Beidohrigen" angenehm.

Bleibt ein letzter Rat. Ohne dass man auf Wehleidigkeit macht und ohne dass man auf Anteilnahme spekuliert, aber auch ohne falsche Scham, sollte man möglichst bald Verwandte, Bekannte und Gesprächspartner auf die persönliche Situation hinweisen. Das erspart Missverständnisse, wenn man nicht alles beim ersten Male hört, etwas missversteht oder wenn man auf einen bestimmten Sitzplatz hofft; kurzum, es hilft, unangenehme Situationen zu vermeiden und die kleine persönliche Behinderung (fast) zu vergessen.

Ich hoffe, dass ich hiermit einige nagende Zweifel beseitigen konnte, was es mit dem neuen Hörvermögen auf sich hat. Mir geht es jedenfalls so – wenn ich etwas verstanden habe, finde ich mich damit auch besser ab.

Beste Grüße von
ANFux
Zuletzt geändert von ANFux am 26.11.2008, 19:02, insgesamt 2-mal geändert.
1939, m. '94 transtemp. OP (15 mm) in Magdeburg/Prof. Freigang, einseitig taub, kein Tinnitus, keine Fazialispar. Rehakur in Bad Gögging. '96-'04 im Vorstand d. VAN in D, seitdem Beratungen zum AN. Ab '07 Moderator, ab '08 Homepage-Verantwortl.(bis 2012)
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Sehr interessant...

Beitrag von marmott » 11.12.2007, 22:17

... lieber AnFux

Ich habe deinen Bericht über das einseitige Hören extrem gerne gelesen und kann mich vollständig identifizieren. Und musste sogar schmunzeln, als du das mit dem Konzert geniessen beschrieben hast. Ich werde in 14 Tagen an eines gehen und war bereits an einem Musical und wisst ihr was? Man braucht nur einen Ohrenstöpsel für ein Konzert :) ich musste schon sehr lachen, als mir das bewusst wurde.

Und dann mache ich das instinktiv richtig, dass ich keine Lärmquellen meide. Wie AnFux gemeint hat, trainiert man so das eine Gehör.

Danke vielmals für diese Bestätigung und Information. Wirklich extrem spannend, wie man sich plötzlich wieder erkennt.

Ich wünsche allen eine schöne Adventszeit!
Marmott
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